Blick frei, Bild pur

Heute, am 15. Oktober 2007, wird der großartige Schauspieler und Autor Dietrich Kuhlbrodt 75 Jahre alt. Von Jürgen Kiontke im "Neues Deutschland"

Unglaublich. Mindestens 200 Jahre alt. Eines der letzten echten Fischerhäuser in Hamburg. Manchmal wird’s dunkel. Dann fährt vorm Fenster auf der Elbe gerade ein Containerschiff aus Singapur durch. Im Garten wilde Erdbeeren. Exakt 211 Treppenstufen muss man laufen, um vor der Behausung des Schauspielers, Filmkritikers und Staatsanwalt a.D. Dietrich Kuhlbrodt in Hamburg-Blankenese zu stehen.

Das Haus, in dem er mit seiner Frau, der Schauspielerin Brigitte Kausch, lebt, ist nicht das einzige Außergewöhnliche an Dietrich Kuhlbrodt, der heute unglaubliche 75 Jahre alt wird. Die „schillerndste Figur im Untergrund“ nennt ihn die FAZ, der Ruf ist hart erarbeitet: Seit 1957 schreibt Kuhlbrodt Filmkritiken und spielt Theater. 1984 entdeckte er einen deutschen Regisseur, dem er einiges zutraute und einen großen Text widmete: Christoph Schlingensief. Alles klar, meint Schlingensief, wer so über mich schreibt, kann auch gleich bei mir mitspielen.

Ob als Kettensägen schwingender Ossihasser im „Deutschen Kettensägenmassaker", in „Die 120 Tage von Bottrop“ und „United Trash“: Kuhlbrodt läßt keinen Streifen des subversiven Fimemachers aus. Als Schlingensief an die Volksbühne wechselt, startet Kuhlbrodt eben noch mal am Theater durch. Auch ohne Christoph: Letztes Jahr die Hauptrolle in der „Bakchen-Orgienprobe“ des Euripides im Leipziger Off-Theater Lofft. Jüngst mit Ben Becker in Hamburg in „Endstation Sehnsucht“ und in Stuttgart als Varus in den „Hermannschlachten07“.

Da die Kuhlbrodt-Familie so etwas wie eine Talentschmiede zu sein scheint, kommt der Hang zum großen Auftritt nicht von ungefähr: Großvater war Schauspieler, Bruder ist es auch. Brigitte Kausch, augenzwinkernd: „Der Didi ist hemmungslos kamerageil.“

Ein Witz unter Leuten, die sich 40 Jahre kennen. Aber: Dass es einen solchen Schub nach der Pensionierung gäbe, war nicht unbedingt abzusehen. Neben Filmkritik und Schauspielerei gab es noch anderes zu tun, z.B. Verbrecher fangen. Kuhlbrodt begann seine juristische Laufbahn 1965 in der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen in Ludwigsburg. Gern gesehen waren die jungen Strafverfolger dort nicht. In seinen 2002 erschienenen Memoiren („Das Kuhlbrodtbuch“) notiert er: „Die Stadt, wiewohl SPD-regiert, empfand die Stelle als Schandfleck.“

Die Verfolgungsstelle ist im Frauengefängnis untergebracht. „Wir waren hinter Gittern. Zu unserem Schutz, wie wir schnell merken sollten. Es war der Tag, als, die Bundeswehrkapelle vorweg, mit Blasen und Trommeln der SS-General Dietrich feierlich zu Grabe getragen wurde. Und diesmal stießen die Trauergäste uns gegenüber Flüche und Verwünschungen aus, auch reckten sich Fäuste gegen die Zellengitter: ‚Wir kriegen euch noch.’“

Dazu ist kommt es zum Glück nicht. Stattdessen wird er für sein Engagement soll Kuhlbrodt den „Orden Kommandeur des Friedenskreuzes der alliierten Widerstandskämpfer in Europa“ bekommen.

Und wo sind die Memoiren erschienen? Standesgemäß im Verbrecherverlag. Besonders gehangen hat Kuhlbrodt, der zuletzt Oberstaatsanwalt in Hamburg war, nicht an seinem Job: Seine Robe spendete er 1995 für die Abokampagne der Tageszeitung junge Welt, für die er damals schrieb - Motto: „Wir geben unser letztes Hemd.“

Womit wir bei seiner Tätigkeit als Autor wären - der Mann hat Tausende von Filmkritiken verfasst und ist noch dabei. Sein Stil: konkret direkt. Kuhlbrodt schreibt nicht „über“ Filme, er sitzt mittendrin. Und der Leser? Wird verhaftet! Kostprobe gefällig? Zum Film „Napola“ schreibt er: „Wir haben den Blick frei und das Bild pur. Alles eins zu eins, und die rechte Haltung dazu wäre affirmativst -; okay: voll affirmativ. Der Ton ist klasse. Das Schmackes, wenn der Boxhieb gekonnt im Gesicht des anderen landet. Das ist professionell. So gut hab ich das lange nicht gehört. Und doch ist etwas schlecht, denn, ach, es ist Krieg, und ein verletzter russischer Kriegsgefangener wird vom Gauleiter erschossen...“ Wer so schreibt, hat Fans: Auf der Internetseite www.filmzentrale.com sammeln sie alles, was es von Kuhlbrodt zu lesen gibt.

Es deutet sich an: Beim Autor Kuhlbrodt dreht sich nichts nur um den Stil allein, dafür ist das politische Interesse zu groß: Nazis im Fernsehen und im Kino - zu diesem Thema kommt Kuhlbrodt immer wieder zurück. In seinem Buch „Deutsches Filmwunder - Nazis immer besser“ kommentiert er die historischen Kontinuitäten des Unterhaltungssektors. Sein Fazit über die neue Hitlerhaftigkeit: „Die besten Nazis aller Zeiten aber in ‚Der Untergang’,, Napola’, maskiert von einem Bildformat, Kitsch und Biederkeit in einem. Das Format mag man hinnehmen und mit den Achseln zucken.“ Wenn es aber benutzt werde, um einen besseren Nazi nach dem anderen einzuschleusen, nicht nur fiktiv, sondern zur politischen Restauration, dann „schreien mich diese nun gar nicht mehr unschuldigen Bilder an: Zerkratz mich, besudel mich, spray Graffiti drauf, mach was“.

Wie es zu machen ist - ob in darstellender, schreibender oder noch ungeahnter Weise - das wird Kuhlbrodt uns in den nächsten 75 Jahren zeigen. Und wenn er uns noch nicht hat: Er kriegt uns noch.

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