Der Geistertunnel unterm Görlitzer Park

Es war Mitte der neunziger Jahre, und es war schon damals überholt, in einer der klassischen Wohngemeinschaften zu leben, doch Till tat es, und ich fand's klasse. An einem Tag wie diesem war es aber Frust. Draußen schien die Sonne, und drinnen hatte schon seit Tagen jeder das Geschirr vom andern benutzt. Till war in der Küche dran, aber ich versagte wieder als Vater. Wir kletterten in dem Hof-Gewerbe-Haus die Stiegen runter. Schwer hölzern überall und düster wie im Tunnel. Zwei Etagen tiefer arbeitete noch etwas, das wie Bleisatzfabrikation aussah. Reichenberger Straße Ecke Glogauer Straße. Linksrum zum Görlitzer Park, und da waren sie tatsächlich, die Stufen runter zum Tunnel. Das Stutzenportal stand noch. Auf den Stufen lagen Papiertaschentücher und Kondome, deren Zahl abwärts zunahm. Ich blieb oben stehen und sah was, das vor fünfzig Jahren da gewesen war: ich.

Januar 1945, ich war elf, meine Schwester Heidi 9, und Miezi und Wauwi, meine Stofftiere, so alt wie damals, ewig jung.

Aufgepaßt: jetzt wird erinnert! Und zwar in zwei Abschnitten. Im ersten brutal affirmativ, im zweiten verschwitzt und defensiv, denn Chefredakteur Behnken hatte mich vor die Redaktionsvollversammlung der Jungle World zitiert. Das war vier Querstraßen weiter Richtung Görlitzer Bahnhof gewesen. In einem Hofgewerbehaus der Lausitzer Straße mußte ich mich für was rechtfertigen, das, wie gesagt, im Text noch nicht dran ist. So viel aber schon jetzt: ich war von der frisch gegründeten Wochenzeitung zur Rede gestellt worden, und auch dafür gab?s für mich ein fünfzigjähriges Jubiläum. Januar 1945 in Zittau in Sachsen.

Jemanden mit Erinnerungen zu kommen und zu behaupten, die seien allgegenwärtig, auch sei der Görlitzer Park der Neunziger daneben die mindere Qualität, ? das, so weiß ich, ist nicht meine Privatsache, sondern objektive Realität. Ganz sicher weiß ich das seit Oktober 2001. Ich war in Wien, auf dem Filmfest, der Viennale, und sah einen dieser japanischen Geisterfilme, die behaupten, daß jedes Ding seinen Geist hat, ob Mensch, Tier oder Sache. So daß man auch die Treppenstufen zum Görlitzer Tunnelstutzen als Geisteremanation definieren kann. Und wehe, es hört keiner drauf oder liest diesen Text nicht weiter, dann kommt ein Flugzeug und fliegt ins Hochhaus. Jedenfalls war das die Aussage des prä-11.September-Films "Kairo", und ich verliere den Faden. Was ich als Geist aber darf.

Im Januar 1945 also war ich im Dunklen mit Heidi die Stufen runtergestolpert, ziemlich geschubst, ich hatte Wauwi verloren, oder er war geflüchtet, ich tastete auf den Stufen rum, die Erwachsenen schimpften, die Sirenen hatten schon aufgehört zu heulen, die ersten Bomben schlugen ein, und wer sagte, wir täten recht, vorm Tunnel zu bleiben, denn, wenn da was drauffiele, wären sowieso alle hin, bei der dünnen Decke. Wir wurden trotzdem reingedrängt. Der Tunnel schaukelte. Das Licht ging aus. Einige schrieen, alle anderen blieben stumm im Tunnel. Heidi und ich waren noch ganz aufgeregt, aber das war noch vorher gewesen, in der Bahnhofsgaststätte. Das einzige, was es noch gegeben hatte, waren Pappbecher mit Wasser gewesen, zu 15 Pfennig. Glück gehabt, wir waren die letzten. Die Becher waren alle, und Wasser ohne Becher gab?s nicht. "Das ist doch paradox!", hatte eine Frau gerufen. Das Wort kannte ich nicht, es muß gefährlich gewesen sein. Ein Mann hatte sie aufgefordert, das noch mal zu sagen. Schweigen. Stille. Ich weiß noch heute, das was in der Luft lag. Eine unerträgliche Spannung. Schlimmer als das, was anschließend aus der Luft kam. Das Bahnhofsgebäude ist heute weg, die Spannung noch immer da, geisterhaft.

Ich war mit Heidi auf dem Weg von Zittau nach Mecklenburg, aus der Kinderlandverschickung ins Dorf, wo die Ausgebombten lebten. In Görlitz waren wir ausgestiegen und lauschten dem Kanonendonner, aber das war ein Fehler gewesen. Unser richtiges Ziel, den Görlitzer Bahnhof, hatten wir trotzdem erreicht. Aus dem Tunnel rechts raus, und früh am Morgen, im Dunklen, fuhr geisterhaft die erste U-Bahn übers Viadukt, schwach beleuchtet, trotz der Verdunklung.

Fünfzig Jahre später ging ich mit Till links rum. Der Tunnel wäre längst abgetragen, sagte er. Der Eingang würde zugeschüttet werden. Der Geist, der in dem Ding sitzt oder es ist, ist tatsächlich längst beerdigt. Ich weiß nicht, ob er sich das auf Dauer gefallen läßt. Hoffentlich kommt nicht der Japan-Flieger. Ich hatte zusammen mit Till das lebhafte Gefühl, dem Tunnel Ehrerbietung erweisen zu müssen. Wir spürten beide in der Längsrichtung des Parks die Erhabenheit, auf der die Gleise den Bahnhof Richtung Görlitz verlassen hatten oder in der Geisterwelt noch heute verlassen. Ich meinte zu hören, wie Züge über nicht verschweißte Gleise rumpelten, zu sehen war in der diesseitigen Welt keine Eisenbahn, wir konnten also ungefährdet die Brücke über den Landwehrkanal überqueren, Treptow erreichen, längs der Kiefholzstraße über die Brücken in Verlängerung der Jordanstraße gehen, und dann den Damm hoch zur Strecke von Sonnenallee nach Treptower Park, auch hier fuhr die S-Bahn mitnichten. Uns war klar, daß wir in Treptow nichts zu suchen hatten. Wir kehrten um, und so konnte ich endlich ein zweites mal in den Görlitzer Bahnhof einfahren. Den Park nahm ich nicht wahr. Mitte der neunziger Jahre hatte er immer noch etwas Kahles an sich.

Auch Chefredakteur Behnken hatte am Treptower Park nichts mehr zu suchen. Die Redaktion der jungen Welt saß in einem Gebäude, an dessen Hinterseite Till und ich die Kehrtwende wieder Richtung Görlitzer Park gemacht hatten. Dem Behnken und fast der ganzen rebellischen Redaktion war gekündigt worden. Sie mußten aus dem altehrwürdigen FDJ-Gebäude raus, auch Jürgen Kiontke, dem ich früher meine Filmsachen geschickt hatte. Die neue dissidente Zeitung nannte sich Jungle World. Kreuzberg bot den Redakteuren sichere Zuflucht. "Es wär? gut, wenn Du Dich in der Lausitzer Straße mal sehen ließest". So Freund Jürgen. Ich hatte in der Tat was gutzumachen. Denn während des junge-Welt-Aufruhrs hatte ich mangelnde Solidarität gezeigt. Einen Artikel, der dort noch lag, hatte ich nicht zurückgezogen. Er war jetzt bei den Feinden erschienen, und ich sollte mich vor den Noch-Freunden rechtfertigen. Zum festgesetzten Termin war ich nicht gekommen. Einfach so. Schlimm.

Jetzt also, ein paar Schritte von Tills Wohngemeinschaft entfernt, schritt ich zum Versöhnungstreff in die Lausitzer Straße. Beglückt pfiff ich mir ein geisterhaftes Lied. In den lichten Redaktionsräumen traf ich einen ernsten Behnken an. "Die anderen kommen noch", sagte er, "wir warten". Zu viel Ehre für mich. Zu meinem Empfang traf eine ernste Heike Runge ein; sie war für meine Filmartikel zuständig geworden. Ein oder zwei Redakteure kamen noch dazu. Dann begann das Verhör. In der Lausitzer Straße wurde ich zur Selbstkritik eingeladen. Ich verteidigte mich. Soweit ich erinnere, ging es um Schlingensief und ob ich auch evtl. Nazi wär. Leider kriegte ich das redaktionelle Anliegen erst nach anderthalb Stunden raus. Solange hatte ich small-talk-mäßig über das geplaudert, was wir an der Volksbühne Ost am Rosa-Luxemburg-Platz trieben. Jetzt, in Kreuzberg, war ich in einem anderen Land mit anderer Zeit. Und da kam sie wieder auf, diese Spannung, das Verstummen und die Stille, nachdem ich ohne Überlegung was gesagt hatte wie "Das ist ja paradox".

Es mußte schon aus dramaturgischen Gründen etwas geschehen. Muß ich mich mit traumatischer Begründung verteidigen? Ich muß mich rechtfertigen! Mir kam eine Erleuchtung. "Ich bin kein Nazi!", sagte ich. "Und wenn was von mir in der jungen Welt erscheint, dann doch nicht ebenso in der Jungen Freiheit." ? "Also gut, ihr habt?s alle gehört", sagte Behnken entschieden, "damit ist es gut". Die Redakteure gingen wieder an ihre Tische, und Behnken verabschiedete mich.

Da stand ich leicht verwirrt auf der Lausitzer Straße und blinzelte ins Himmelslicht. Schräg gegenüber stand ein offiziös anmutendes Bauwerk, St. Marien, glaube ich. Genauso hatte ich fünfzig Jahre zuvor ein Gemäuer in Zittau in Sachsen vor Augen gehabt, als ich, allerdings die erwähnten elf Jahre alt, das Direktorzimmer der Oberschule verlassen hatte, verwirrt, überrascht, schuldig, evtl. aber doch freigesprochen. Ich hatte, und das mitten im Schuljahr, zu Jahresbeginn 1945 eine Reisegenehmigung für mich und meine Schwester beantragt. Oder es war so gewesen, daß der Direktor das Abhängigkeitsverhältnis bestätigen und die Reise billigen mußte. Egal. Der Chefdirektor hatte mir, wie ich erwartet hatte, keineswegs eine gute Reise Richtung Görlitz resp. Görlitzer Bahnhof gewünscht. Statt dessen behandelte er mich als fahnenflüchtigen Erwachsenen. "Wenn alle ihren Posten verlassen so wie Du, dann ist unser Vaterland verloren", schwang er die Moralkeule. Dann schwieg er, lange. Spannung baute sich auf. Ich mußte mich rechtfertigen, mich verteidigen. Mich verließ der Mut. Ehe er mich soweit hatte, daß ich ihn um ein moralisch einwandfreies Gewehr bitten konnte, sagte er so etwas wie "Was hast Du mir zu sagen?" ? "Ich bin kein Nazi", sagte ich trotzig.

Na, das erinnere ich bestimmt falsch, aber den Trotz habe ich noch immer, auch noch als Geist der Nazizeit, der grade 50 Jahre Erinnerung feiert. In Kreuzberg. Beschwingt ging ich, ein altmodisches Liedlein pfeifend, eine Querstraße weiter zur Paulstraße, am Landwehrkanal längs, über die Brücke zum Maybachufer, traf dort meinen anderen Sohn, den lieben Björn, sowie Wiglaf Droste, wir tranken uns die Hucke voll. Mit Wein. Auf der Brücke belästigten wir Passanten. Wiglaf hatte mich zu diesem Zweck mit einer Taschenlampe ausgerüstet. Es wurde dunkel. Man konnte an der Lampe zwei gelbe sowie einen roten und einen rosa Knopf drücken und damit Technorhythmen aktivieren, auch, jawohl, modulieren, geringfügig, aber immerhin. Das Licht flackerte dazu. Es war klasse. Die Erinnerungsgeister waren abwesend. Und sowieso war es lästig geworden, wie das, was gewesen war, zusammen floß und sich vermischte. Die Gehirnzellen, die Erinnerung kodieren, sterben alle sieben Jahre ab. Hat mir inzwischen Karl-Heinz Roth auf Gremlizas Geburtstagsparty gesagt. Also erinnere ich mich höchstens an das, was ich schon vor jeweils sieben Jahren erinnert hatte. Tschuldigung also, Behnken. Aber trotz trotz trotzdem gehe ich, wenn ich in Kreuzberg bin, lieber nicht in die Lausitzer Straße. Empfehlen kann ich nur den Weg über die Brücke vom Maybachufer zum Bierhimmel in der Oranienstraße. Im Oktober 2001 traf ich dort Wolfgang Müller, der mir die Geschichte vom Frontkino erzählte, wo ich in den achtziger Jahren auch gewesen war, ohne von der Leiche drüber zu wissen. Meine Leichen liegen jetzt unterm Görlitzer Park. Im Tunnel. Denke ich doch. Die Geister werden rauskommen, wenn man sie ruft.

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