"Du! Nazi?" - "Ich? Nö!"
Wieder ein Filmfestival im Jahr 00. In Kirchdorf auf der Insel Poel, einige Seemeilen nordöstlich von Wismar. Aber diesmal war alles anders. Das heißt: Im Tanzsaal von Jochen Mirows Gaststätte "Zur Insel" war auf der provisorischen Leinwand die Welt noch in Ordnung gewesen. Auf der 7. Dokfilmwerkstatt "Drehort OstWestDeutschland" hatte der westberliner Rosa von Praunheim ("Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt") im Auftrag des NDR zu seiner Dorf-Dokumentation "Wunderbares Wrodow" (1999) erklärt: "Keine Rechtsradikalen, statt dessen 60 Menschen voller Lebenslust und menschlicher Wärme. ... Wanderer, wenn Du nach Mecklenburg kommst, schau doch mal vorbei!"
Ich schaute nicht vorbei, aber hin, gleich nachdem der Film zu Ende war, ein paar Schritte, und da saßen sie wieder, von der Leinwand nur durch eine Mauer getrennt, die Inselskins von Poel. Jochen war 150-%ig damit ausgelastet, "Schweriner" zu zapfen. Gleich den ersten Trinker fragen: "Sachma, Niels, bissu Nazi?" Niels: "Ich bin gegen die Regierung". Ich: "Aber das ist doch prima, daß sie das Fiftyfifty-Taxi eingeführt hat" (das gibts in Mecklenburg. Damit nach Disco oder Club betrunkene Skins das Taxi nur halb bezahlen. Die andere Hälfte, also 40 Mark von den 80 Mark Taxikosten Schwerin-Poel, zahlt "die Regierung"). Niels: "Da bin ich völlig gegen. Wer nicht fahren kann, soll nicht fahren oder gleich das Auto zu Hause lassen." Ich: "Ich mein doch nur ..." Niels, schärfer: "Ich laß mir in meine Ansichten nicht reinreden". Ich, noch schärfer: "Du bist mir einer". Er: "Ich sehs an deinen Augen. Mit dir kommt man nicht klar". Sein Kopf war irgendwie rot angeschwollen. Er trank sein Bier mit rechts. Rechtshänder. Was muss ich jetzt tun? Rechts den Haken, Unterarm links hoch und den Kopf rechts zurück?
Gabriele Kotte warf sich zwischen uns. Sie ist zwei Köpfe kleiner als Niels und einen Kopf kleiner als ich. Außerdem ist sie Festivaldirektorin. "Dieses Jahr ist es anders". Sie schien besorgt, wenn auch nicht speziell meinetwegen. "Früher saßen die Skins nur hinten in der Ecke an ihrem Tresen. Jetzt sind sie zum Haupttresen vorgerückt. Und das Festival rückt in den Hintergrund. Sie würden wegbleiben, wenn Jochen das wollte. Aber er sagt ja nichts".
Warum Jochen nichts sagte, kriegte ich jetzt nicht raus, weil da war das Zapfen. Also nahm ich ein neues Schweriner sowie einen neuen Anlauf und fragte Mario, den bräsigen Jungdickschädel mit dem voll germanischen Körperdesign, lieber nicht, ob er Nazi ist, sondern wieso die Regierung den Skins das halbe Taxi nach Poel zahlt und nicht auch den andern. Die Antwort: "Weil auf der Insel alle so sind wie wir". Klasse. Jetzt passte es wieder: "Sachma Mario, bissu Nazi?" Mario sah mich ein bisschen zu nachdenklich an. Vor dem wunderbaren Wrodow hatte er mir noch draußen vor der Kneipe aus der Patsche geholfen. Direkt neben dem Inselnostalgietrabi, bemalt mit Militärtarnfarben wie ein Panzer, war der Räucheraalstand, und ich hatte mit den Zähnen einen Aal aus der Haut gebissen und dachte, das hast du hinter resp. in dir, als Unruhe aufkam. Ich hatte vergessen, mir einen Löffel zu besorgen und das Aalfett von der Innenhaut zu kratzen. Mario hatte die Sache in Ordnung gebracht und Jochen mir einen doppelten Kümmel. Soweit die Vorgeschichte, o du wunderbares Poel.
Aus Jochens Gesangbuch: "Warum ist es auf Poel so schön? Warum ist es auf Poel so schön? Weil die Mädchen so lustig und die Burschen so durstig! Darum ist es auf Poel so schön, auf Poel so schön!"
Wie war das nun mit dem Nazi? Mario Schomann also, aber den Nachnamen müßte man wohl ändern, hatte schon viel Aalfett gekratzt, drum stand ihm das Muscle Shirt gar nicht schlecht. Nochmal: "Du! Nazi?" Er: "Ich? Nö!" - "Und was ist das hier?" Ich tippte auf seinen Oberarm. Er: "Das ist ein Wikingerschiff". - "Und das drüber?" - "Das ist Odin". Pause. Er, weiter: "Odin war kein Nazi". Pause. Dann: "Auf der andern Insel, die auf Island, die sind auch keine Nazis".
Weitere Fragen? Hatte ich nicht. Auch weil das sichtbar in Marios Familie lag, daß sein Opa Heinz Trainigspartner von Max Schmeling gewesen war. Außerdem hatte mein Nicht-Nazi ein deftiges blaues Auge sowie den Dienstgrad eines Fallschirmjägerunteroffiziers. Ich überließ es ihm daher, in eine Art Schreiwettbewerb einzugreifen. Skin 1 grölte: "Ich will ne Votze!" Skin 2: "Ich werd schwul!" Kaum war Mario dabei, kippten diverse Hocker um, auch einer von den beiden Jungs, die in Not waren. Später sollte Ralf Schenk in der Berliner Zeitung von Hörensagen schreiben, daß auf Poel das eine oder andere verbale Argument in Faustschläge übergegangen sein. Ich kann jedoch meinerseits nicht bestätigen, daß es sich um wunderbare Dokumentarfilmargumente gehandelt hat. - Aber klar, man möchte hören, was man möchte.
Was ich haben möchte? Ich hatte gar nicht mitgekriegt, daß Sebastian, der blasse und irgendwie dünnhäutige der Gruppe, mich zu Whiskycola einlud. Sebastian ist ein verständnisvoller Skin, auch hat er Haare auf dem Kopf, ca. 1 mm lang, vielleicht kommt er Sonnabend/Sonntag nicht zur Kopfrasur. Wochentags ist er Betonfacharbeiter, Feiertags wartet er auf dem Sofa, bis der Promillepegel gesunken ist; dann fährt er die 6 km vom Westhafen Timmendorf quer über die Insel zu Wirt Jochen und seiner Enkelin, und wenn die Enkelin Skinbraut ist, kann der Opa sie doch nicht rausschmeißen.
Aja. Dann würde Sebastian also demnächst den Laden hier übernehmen. Aber die Frage war taktlos, denn Jochen und seine Frau, heute feierte sie ihren Geburtstag, waren rüstig. Soeben wurde mit Trara eine riesige Torte angeschnitten. Alle waren glücklich, und ich war im Zentrum. In ihrem.
Sebastian und seine Zukünftige blieben bei Whiskycola. Ich nun auch. Denn nun erfuhr ich, was ich beim rotanlaufenden Niels falsch gemacht hatte. "Du kommst hier mit allen klar, auch wenn die voll Alk sind, du musst nur immer genau das sagen, was die sagen", ermahnte mich der Blasse fürsorglich. Klaro, mach ich, ich bin doch auch dagegen, daß Betrunkene Auto fahren, wenn die andere sind. Sebastian machte mich nun darauf aufmerksam, dass ich bei ihm ausnahmsweise anderer Meinung sein könne. - Ich hatte es mit einem aufgeklärten Skin zu tun und wurde nun aufgeklärt. Ob mir aufgefallen sei, dass sie hier keine weißen Bänder in den Stiefeln hätten. "Wir sind eben von der Insel und nicht in der Stadt. In Kirchdorf gibts auch kein Pogo. Wir mögen hier Schlager." Und tatsächlich war der Tanzsaal vom Filmkram inzwischen befreit worden, der DJ spielte was, was ich mein Lebtag nicht gehört hatte; Sebastian tanzte mit Jochens Enkelin, und zwar geschlossen; ich forderte Gabriele Kotte auf; vom vielen Whiskycola hatte ich einen klaren Kopf bekommen und fragte mich, ob der volltolerante Skin Sebastian mit seiner Insel-Skin-Analyse nicht recht habe. Die ging so:
Ist doch toll, daß die Frau (Gabriele) mit all den Menschen nach Kirchdorf kommt. Sonst würde die Dorfjugend (und die sind, wie gesagt, alle Skins) nichts neues zu sehen kriegen, und dann würden sie bleiben, wie sie sind. Wismar, wo man was auf die Nase kriegt, ist nicht viel besser, Schwerin, von wo zurück im 4-Mann-Taxi jeder dann doch 10 Mark zahlen muss, auch nicht. Eigentlich bleibe nur noch Rostock oder Hamburg fürs Wochenende. Und natürlich Berlin. "Ich war mit meiner Freundin", sagt Sebastian mit dünnem Lächeln, "bei der Christopher Street's Day Parade an der Siegessäule, und wenn man das mal erlebt hat, ist man anders". - Danke Sebastian, aber evtl. too much. Jedenfalls bin ich jetzt richtig indoktriniert, daß das mit dem Skin-Klischee gar nicht stimmt, und Nazis sind sie auch nicht, kein weißes Hemd-mit-Schlips bei Jochen zu sehen, und in ein, zwei Stunden muß der alte Fischer-mit-dem-heiteren-Blick in See stechen, dann ist es so zwischen drei und vier morgens, und er braucht noch einen zweiten Mann, sonst gehts nicht, also tschüß auch und wir sehen uns und mit Schlafen wirds wohl nichts.
Richtig, Jochens "Zur Insel" ist keine Skinkneipe, sondern eine Gaststätte für jung und alt, und wenn ich von Skins schreibe, dann ist das typisch westdeutsch-ausgrenzend, denn die Ostjugend ist hier ganz selbstverständlich Teil der Inselgenerationen. Man versteht sich, wir sind 1 Familie und 1 Volk, und man versteht nicht, warum wer da einen Keil reintreiben will. Man bemüht sich um Verständnis, und das ist keine Indoktrination.
Also ist es alles viel schlimmer als bislang gedacht. Wie war es doch für den Westdiskurs zudem mit Naziglatzen so bequem. - Okayokay, aber von den Weißschnürsenklern abgesehen fühlen sich Mario, Sebastian, Jochen und seine Enkelin von der Kampagne nicht betroffen. Ist doch nur der Alltag hier! ...
Was nun mich betrifft, so habe ich in das rote Niels-Gesicht nicht reingehauen, es war ja alles schwammig gewesen, und es war um wertkonservatives alkoholfreies Kraftfahrzeuglenken gegangen, wer hat da was gegen, auch ist das Thema nicht damit zu erledigen, dass wer mit dem Finger auf die Naziglatze zeigt, weswegen ich das alles hier aufgeschrieben habe.
Dietrich Kuhlbrodt (konkret 12/2000) |